Das Mastura-Institut für Praxiswissen – De-Kolonialisierung von Wissen

Im Kontext der internationalen Debatte um psychologische und psychosoziale Unterstützung für Überlebende von Gewalt engagiert sich HAUKARI e.V. im Fachaustausch mit Kolleg*innen in der Region Kurdistan-Irak für die Stärkung von lokal kontextualisierten Konzepten und Praxen, für die De-Kolonialisierung von West-/Ost- und Nord-Süd-Wissenstransfers und für Räume und Plattformen für einen internationalen Wissensaustausch auf Augenhöhe zwischen verschiedenen Kontexten.

Inhaltsverzeichnis

Hintergrund

Im Rahmen des MHPSS-Schwerpunkts werden in der Kurdischen Region Irak und im Irak eine Vielzahl von Qualifizierungsmaßnahmen für lokale psychologische und psychosoziale Fachkräfte angeboten. Viele dieser Maßnahmen werden von internationalen Trainer*innen durchgeführt, die wenig Kenntnis der lokalen Kontexte haben, richten sich an professionelle, akademisch ausgebildete Fachkräfte und vermitteln in westlichen Kontexten entwickelte Traumakonzepte und Therapie- oder Beratungsansätze. Solche Trainings gehen oft am Bedarf lokaler Berater*innen, die täglich mit Fällen komplexer Gewalt zu tun haben und selbst in gewaltvollen Verhältnissen leben und/oder aufgrund ihrer Tätigkeit bedroht und stigmatisiert werden, vorbei. Sie tendieren zudem dazu, lokal entwickelte Konzepte und Praxen des Umgangs mit den Folgen von Gewalt zu übersehen und zu überschreiben. 

So lehnen zum Beispiel Anfal überlebende Frauen in der Germian-Region eine psychologische Definition ihres Leids ab und engagieren sich in kollektiven Strukturen für ein Erinnerungsforum, das Gedenkort und soziales Zentrum zur gemeinsamen Erinnerungsarbeit und gemeinsamen Aktivitäten sein soll (Link zum Projekt Erinnerungsforum).  Ein weiteres Beispiel ist der Umgang mit Konflikten im familiären Kontext. Kolleg*innen des Frauenzentrums KHANZAD und anderer staatlicher und zivilgesellschaftlicher Beratungsprojekte für Frauen in Gewaltsituationen haben reiche und vielfältige Expertise in frauenzentrierter Familienmediation (Link zur ausführlichen Beschreibung), die der Zentralität von Familie in der kurdischen Gesellschaft Rechnung trägt. 

Gründung

Vor diesem Hintergrund gründeten Haukari e.V. zusammen mit kurdischen und südafrikanischen Kolleg*innen 2022 das Mastura Institute of Applied Science in Psychosocial Work in der Stadt Sulaimania. Die Namensgeberin des Instituts, Mastura Ardalan, gilt als die erste weithin anerkannte weibliche Historiografin des 19. Jahrhunderts im Nahen Osten und arbeitete in Sulaimania. 

Konferenz einbringen?

Das Institut bringt Forscher*innen, Dozent*innen, Praktiker*innen und Studierende zusammen, um gemeinsam über psychosoziale Ansätze zu reflektieren und diese weiterzuentwickeln. Ziel ist es, lokale Konzepte und Praxen psychosozialer Arbeit zu stärken und Plattformen für transnationale und kontextübergreifende Wissensdebatten zu schaffen. Das Institut versteht sich als Beitrag zur internationalen Diskussion um die De-Kolonialisierung psychosozialen Wissens und strebt langfristig gemeinsame Forschungs- und Praxisprojekte an.

Inhaltlich werden methodologische, epistemische und politische Spannungen des internationalen Wissensaustauschs aufgegriffen: Welche Denkschulen und praktischen Ansätze existieren in „West“ und „Süd“? Wie lassen sich unterschiedliche Wissensformen dialogisch verknüpfen? Und wie können Fachkräfte aus der Region als aktive Wissensproduzent*innen anerkannt werden? Wie kann über Konzepte aus unterschiedlichen Kontexten gesprochen werden, ohne koloniale Denkstrukturen zu reproduzieren? Welche Rolle spielen Sprache, Übersetzung, Positivismus und kulturelle Zuschreibungen in der Wissensvermittlung? Welche Begriffe – etwa „Trauma“ oder „Resilienz“ – tragen welche Konnotationen? Und wie lässt sich psychosoziale Praxis in Krisenkontexten auf lokales Wissen stützen, ohne dieses zu romantisieren oder zu essentialisieren?

Lehrveranstaltung College of Humanities, Universität Sulaimania, Kurdistan-Irak

Ziele und Ansätze

Ziel der Arbeit des Mastura Instituts ist es lokal verankertes Wissen, internationale Reflexion und interdisziplinäre Ansätze produktiv zu verbinden, um so psychosoziale Unterstützung in von Gewalt und Krisen geprägten Regionen nachhaltiger, gerechter und wirksamer zu gestalten. 

Interdisziplinärer Diskurs 

Fortbildungen, Forschung und Austausch sollen sich nicht auf Konzepte und Methoden der psychloogischen und psychosozialen Arbet beschränken, sondern auch breitere konzeptionelle Debatten um zugurndeliegene Annahmen, Welt- und Selbstverständisse anstoßen. Das Institut soll kontinuierlichen und intensiven Austausch zwischen Kontexten fördern und dabei Differenzen und Gemeinsamkeiten herausarbeiten. Es soll nicht nur zur Stärkung lokaler Kapazitäten in der psychologischen und psychosozialen Arbeit beitragen, sondern auch zu breiteren Debatten um koloniale Mechanismen in Wissensproduktion und Wissenstransfer und zur De-Kolonialisierung psychologischen Wissens.   

Glokaler Ansatz 

Am Mastura Institut wird kritisch geprüft, welche Ansätze in der psychosozialen Arbeit im kurdischen Kontext wirksam sind – und welche weniger. Gleichzeitig werden kurdische Fachkräfte dazu ermutigt, eigene Methoden zu systematisieren, zu dokumentieren und in internationale Fachdebatten einzubringen. Zu diesem Zweck hat das Mastura Institute ein „glo-kales“ Team aufgebaut: Fachkräfte aus Kurdistan, Deutschland und Südafrika mit unterschiedlichen Disziplinen leiten gemeinsam Diskussionen, Workshops und Seminare mit kreativen, partizipativen und praxisnahen Ansätzen.

Verbindung Theorie und Praxis

Es wird gezielt daran gearbeitet, Hierarchien zwischen Wissenschaft und Praxis abzubauen und Barrieren zum akademischen Diskurs durch logistische Unterstützung und die Förderung lokaler Sprachen zu verringern. Akademisch zielt das Projekt auf den Aufbau transnationaler Austauschplattformen und die Stärkung lokaler Perspektiven in internationalen Debatten zur Wissensproduktion im psychosozialen Feld. So trägt das Vorhaben zur De-Kolonialisierung psychosozialer Theorie und Praxis bei. In der Praxis steht die Stärkung und Systematisierung lokal entwickelter, kontextualisierter Konzepte und Methoden im Zentrum. Zudem soll die Verbindung von Theorie und Praxis in der akademischen Ausbildung vor Ort verbessert werden, um langfristig maßgeschneiderte psychosoziale Unterstützungsangebote für von Gewalt, Vertreibung, Konflikten und Krisen betroffene Menschen zu entwickeln und professionell umzusetzen. 

Lehrveranstaltung College of Humanities, Universität Sulaimania, Kurdistan-Irak

Tätigkeiten

  • Kontinuierliche Debatten durch regelmäßigen offenen Veranstaltungen für Fachkräfte, Studierende und Forschende aus dem Bereich Sozialarbeit und Sozialwissenschaften
  • Workshops zur „Kontextualisierung psychosozialen Wissens” mit Teilnehmenden aus Psychologie, Soziologie, Sozialarbeit, Philosophie, Pädagogik, Recht und Kunst, die in der psychosozialen Praxis sowie in Forschung und Lehre tätig sind 
  • Mentoring- und Hospitationsprogramm in Zusammenarbeit mit dem Fachbereich Sozialarbeit an der Universität Sulaimani gestartet, in dessen Rahmen Studierende Praktika absolvieren können 
  • Ausbildungsmöglichkeiten für lokale Berater*innen, Mediator*innen und Supervisor*innen
  • Aufbau eines Supervisor*innen-Pool, der lokal kontextualisierte Supervisionsansätze entwickelt und anbietet – sowohl für NGOs als auch für staatliche Strukturen

2024 veröffentlichten das Mastura-Institut, HAUKARI e.V. und die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) gemeinsam das Diskussionspapier „Kontextualisierung Psychosozialen Wissens – Erfahrungen, Herausforderungen und Empfehlungen aus einem kontextübergreifenden Reflexionsprozess am Mastura-Institut für angewandte Wissenschaft in der psychosozialen Arbeit, Slemani, Region Kurdistan, Irak“. Das Papier beruht auf einer Reihe von Workshops von Mai 2023 bis Mai 2024 mit Akademiker*innen und Praktiker*innen der psychosozialen Arbeit aus Kurdistan-Irak, Südafrika und Deutschland, die von der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) unterstützt wurden.

Hier geht es zum Diskussionspapier.

Förderer und Partner*innen

Für das Institut erhielt HAUKARI e.V. Seit 2021 verschiedene Förderungen  von der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) im Rahmen des Regionalprogramm “MHPSS in the Middle East”.  Zu dem wurde die Arbeit des Instituts durch die Landesstelle für Entwicklungszusammenarbeit Berlin, Brandeburg (LEZ) gefördert.