Erinnerungsforum für Anfal überlebende Frauen, Rizgary

HAUKARI e.V. unterstützt die Selbstorganisationen von Überlebenden politischer und sozialer Gewalt – insbesondere von überlebenden Frauen der Anfal-Operationen 1988 – in ihrem Kampf um Gerechtigkeit und Anerkennung.

Inhaltsverzeichnis

Entwicklung des Erinnerungsforums

Im Projekt Erinnerungsforum engagieren sich Anfal überlebende Frauen in dem ehemaligen Umsiedlungslager Sumud –heute umbenannt in Rizgary – in der Germian-Region im Südosten Kurdistan-Iraks für eine selbst gestaltete und verwaltete Gedenk- und Begegnungsstätte. Sie wollen einen Ort schaffen, der ihre spezifische Erfahrung während und nach Anfal – ihr Leid aber auch ihre Stärken und ihren heutigen Überlebensstolz – repräsentiert und ihnen Raum gibt für gemeinsame Trauer, gegenseitigen Trost und gemeinsame Aktivitäten.

Hier wollen sie die Erinnerung an ihre verschwundenen und ermordeten Angehörigen durch die Ausstellung von Erinnerungsstücken, Dokumenten und Fotos lebendig halten und ihre Situation und Forderungen in die Öffentlichkeit bringen. Das Forum soll Dialogräume eröffnen für die Auseinandersetzung mit der jungen Generation und anderen gesellschaftlichen Gruppen im Irak.

Hintergrund: Die Anfal-Operationen 1988

1988 führte das irakische Regime unter dem Codewort „Anfal“ eine großangelegte Militäroperation gegen kurdische Gebiete im Norden des Irak durch. Mehr als hunderttausend Männer und Frauen wurden verschleppt, ermordet und in Massengräbern verscharrt. Das individuelle Schicksal der meisten ist bis heute ungewiss.

Tausende kurdische Dörfer wurden dem Erdboden gleichgemacht. Tausende Frauen, Männer und Kinder wurden monatelang in Lagern und Gefängnissen inhaftiert; viele starben hier an Hunger und Erschöpfung. Nach ihrer Freilassung wurden die Überlebenden in Zwangsumsiedlungslager verbracht. Die heute 40 000 Einwohner*innen zählende Stadt Rizgary ist aus einem solchen Umsiedlungslager entstanden.

Das Komitee Anfal überlebender Frauen für ein Erinnerungsforum in Rizgary

Mit der Gründung des „Komitees Anfal überlebender Frauen für ein Erinnerungsforum in Rizgary“ 2009 waren anfangs mehr als 100 Frauen kontinuierlich im Projekt aktiv, trafen sich regelmäßig, diskutierten mit Künstler*innen und Architekt*innen die Gestaltung des Forums und mit der kurdischen Regionalregierung über die Finanzierung und bauliche Umsetzung.

In zahlreichen öffentlichen Veranstaltungen konnten sie auch unter Männern und Jugendlichen der Region breite Unterstützung für das Projekt gewinnen und brachten ihre Situation und Forderungen in die öffentliche Diskussion. Über Veranstaltungen und soziale und kulturelle Angebote insbesondere für die junge Generation in Germian nehmen sie die zukünftige Nutzung des Erinnerungsforums als Begegnungsstätte vorweg und betonen, dass das von Frauen initiierte und getragene Forum ein sozialer Ort für alle Menschen der Region werden soll.

© Zeller & Moye

Mehrfach kamen Anfal-Überlebende und andere Projektbeteiligte im Rahmen des Projektes nach Deutschland, besuchten Gedenkstätten für die Opfer des Holocaust und des Nazi-Regimes und tauschten sich aus mit deutschen Künstler*innen und Vertreter*innen von Erinnerungsprojekten. Zudem begannen Anfal überlebende Frauen einen Austausch mit Frauen aus Ruanda und Bosnien über Überlebensstrategien nach extremer Gewalt.

Mit der Initiative für ein Erinnerungsforum machen Anfal überlebende Frauen einen Schritt heraus aus ihrem langjährigen Wartezustand, bearbeiten aktiv und gemeinsam ihre Gewalt- und Verlusterfahrungen und stärken ihre Selbsthilfestrukturen. Sie setzen ihrer öffentlichen Repräsentation als passive Opfer und Symbole des Leids ihre eigenen Erinnerungen, Erzählungen und Stärken entgegen und engagieren sich aktiv in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit der gewaltsamen Vergangenheit.

Umsetzung und aktueller Stand

Die Diskussionen mit der Kurdischen Regionalregierung um die Finanzierung und bauliche Umsetzung des Projekts waren zäh. Es gab einigen Widerstand gegen einen Gedenkort von unten, der mit den vorherrschenden Vorstellungen einer monumentalen Erinnerungskultur an die kurdische Tragödie kontrastiert. Inzwischen hat die Stadtverwaltung von Rizgary eine Bauerlaubnis auf einem zentralen Baugrundstück gegenüber dem Friedhof, auf dem bereits einige Hundert Anfal-Opfer begraben sind, erteilt. Im Herbst 2013 stellte das Ministerium für Anfal und Märtyrer der Kurdischen Regionalregierung die finanziellen Mittel für den Bau des Erinnerungsforums bereit. 

Für detailliertere Informationen zur Entstehungsgeschichte und Gestaltung des Erinnerungsforums schauen Sie hier

Anfal-Dokumentationszentrum Maryam

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Durch die erneute Konfliktsituation und die anhaltende Finanzkrise in der Kurdischen Region Irak seit 2014 verzögerte sich der Baubeginn. Anfal überlebende Frauen aus Rizgary engagieren sich weiter für das Erinnerungsforum. HAUKARI e.V. begleitet sie in diesem Prozess, schafft Räume für den Diskussion und Austausch und dezentrale Gedenkaktionen.  So hat Haukari e.V. 2022 in Rizgary das Anfal-Dokumentationszentrum Maryam eröffnet. Das Gebäude wurde ursprünglich vom Ba’ath Regime erbaut und zur Kommandatur des Zwangsumsiedlungslagers Smuud genutzt. 1991 eroberten Peshmerga-Kämpfer es im Zuge der Raparin-Aufstände. Über die Jahre wurde es unter anderem von Anfal-Überlebenden Frauen mit ihren Kindern bewohnt, von der Frauenunion der PUK als Büro genutzt und zuletzt als Polizeistation gebraucht. 

Heute sind in dem Haus ein Museum, Dokumentationszentrum und eine Anlaufstelle für Anfal Überlebende. Im Zentrum werden Andenken an Opfer der Anfal-Operationen gesammelt und ausgestellt, sowie Erzählungen der Angehörigen und Überlebenden in Bild und Ton aufgezeichnet. Das Haus wird außerdem als Werkstatt und Arbeitsplatz zur Verwirklichung des Anfal-Erinnerungsforum genutzt. Es wurde nach Maryam Salih benannt, einer Anfal-Überlebenden aus Garmian, die ihren Verlobten in den Gewaltakten verlor und Zeit ihres Lebens vergebens auf seine Rückkehr wartete

Projektkomponenten

© Zeller & Moye

Bauentwurf

Nach einem fünfjährigen Diskussionsprozess und vielen unterschiedlichen Entwürfen für das Gebäude wurde der Bauentwurf des deutschen Architektenbüros Ingrid Moye/Christoph Zeller von allen Beteiligten im Oktober 2013 begeistert aufgenommen. Der Entwurf nimmt alle Wünsche der Anfal überlebenden Frauen auf; er integriert Versammlungshalle, Ausstellungsflächen und soziale und Ruheräume in eine schützende Außenmauer, verbindet traditionelle Materialien mit modernen Formen. So passt sich das Gebäude in die Landschaft von Germian ein und ist dennoch auffallend und trägt dem Bedürfnis der Frauen nach Sichtbarkeit Rechnung. 

© Zeller & Moye

Das begehbare Dach ermöglicht den Blick auf den gegenüberliegenden Friedhof und schafft so die Verbindung zu den Opfern. Der geschützte Innenraum bietet Platz für gemeinsames Gedenken, Ausruhen und soziale Aktivitäten. Die Außenmauer wirkt einerseits als Mahnung an das berüchtigte Gefängnis Nugra Salman, in dem viele Frauen während Anfal inhaftiert waren und erinnert zugleich an die schützenden Mauern der traditionellen Häuser in den währende Anfal zerstörten Dörfern von Germian. „Hinter den Gefängnismauern öffnet sich das neue Leben“ kommentiert eine Anfal-Überlebende. Und: „Hier können wir gemeinsam trauern und Beerdigungen begehen, aber ebenso auch die Hochzeiten unserer Kinder feiern“. So spiegelt der Bauentwurf den schmerzvollen Weg der Frauen von Opfern zu Überlebenden.

Die Fotodokumentation

Kernstück des Erinnerungsforums wird eine fest installierte Ausstellung von Porträtfotos Anfal-Überlebender mit Erinnerungsstücken an ihre verschwundenen und ermordeten Angehörigen sein. 

Mit Beratung von Prof. Michael Fehr porträtieren lokale Fotografen seit 2010 in regelmäßigen Fototerminen in Rizgary und Umgebung Anfal-Überlebende.  Für den Hintergrund der Fotos wurde eine transportable Lehmwand im Stil der lokal üblichen Hauswände gebaut.

Das mobile Fotostudio wird zu angekündigten Terminen in Rizgary und umliegenden Orten aufgebaut, um auch Anfal-Überlebende zu erreichen, die in entlegenen Dörfern leben und wegen Krankheit und Alter nicht reisen können.

Anfal-Überlebende bringen Fotos, Ausweise, Kleidungsstücke oder persönliche Gegenstände ihrer Angehörigen mit. Wenn sie keine Erinnerungsstücke haben, schreiben sie die Namen der Opfer in die Handfläche oder auf einen Zettel. Zusammen mit dem Foto werden ihre Daten, Kurzbiografien sowie die Geschichte der Erinnerungsstücke für das Archiv des Erinnerungsforums dokumentiert.

Den bisher entstandenen ca. 1200 Fotos sollen mehrere hundert weitere folgen. Die Fotos sollen als Galerie im Innenraum des Erinnerungsforums den Kern der Gedenkstätte bilden.

Nicht nur Anfal überlebende Frauen, sondern auch zahlreiche Männer haben sich porträtieren lassen. Während sie anfangs einer Gedenkstätte von und für Frauen skeptisch gegenüberstanden, sehe sie das Erinnerungsforum nun als Möglichkeit, ihren verschwundenen und ermordeten Frauen, Müttern und Töchtern ein Denkmal zu setzen. Dabei bringen sie ihre eigenen spezifischen Erinnerungen und Erfahrungen in den Diskussions-und Gestaltungsprozess ein.

Die Fotos erzählen die Geschichte der Ermordeten/Verschwundenen ebenso wie die der Überlebenden, bilden eine Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart und spiegeln die Verschiebung des Fokus von der Trauer um die Toten zur Würdigung der Überlebenden in der Erinnerungsarbeit der Anfal-Überlebenden. Die regelmäßigen öffentlichen Fototermine in Rizgary und Umgebung haben sich zudem selbst zu Dialogräumen entwickelt. Hier treffen sich Anfal-Überlebende, erzählen sich gegenseitig ihre Geschichten und vervollständigen gemeinsam die Dokumentation. Viele kommen regelmäßig zu den Terminen, um andere Überlebende zu treffen

Von der Konzentration auf die Opfer zur Würdigung der Überlebenden

Mehrfach wurde die ständig wachsende Sammlung von Fotos in verschiedenen Städten Kurdistan-Iraks öffentlich gezeigt. Zusammen mit den Fotos wurden Modelle für eine Frauenstatue am Erinnerungsforum ausgestellt – angefertigt von kurdischen Künstler*innen nach Vorgaben und in enger Abstimmung mit den Anfal überlebenden Frauen.

Die Ausstellungen haben das Projekt in Kurdistan-Irak bekannt gemacht, die Diskussion um die Gestaltung des Forums verbreitert und zur öffentlichen Wahrnehmung der Situation und der Forderungen Anfal überlebender Frauen beigetragen.

Zum Jahrestag von Anfal im April 2011 wurde die Ausstellung im Rahmen der öffentlichen Gedenkfeiern am Friedhof von Rizgary gezeigt. Hier sind 187 Anfal-Opfer beigesetzt – die meisten anonym. Viele Hundert weitere Opfer/Tote sollen nach Öffnung der Massengräber hier beerdigt werden. Mit der Ausstellung gelang es, bei den offiziellen Gedenkfeiern neben der Trauer um die Toten auch Raum zu schaffen für die Würdigung der Überlebenden. 

Im Juni 2012 wurden die Fotos im ehemaligen Sicherheitsgefängnis des Baath-Geheimdienstes in Sulaimania gezeigt. Heute befindet sich in dem Gebäude ein Museum, das an die Verbrechen des Baath-Regimes und den Aufstand der Kurden gegen Saddam Hussein erinnert. Hier soll nun eine ständige Ausstellung zum Projekt Erinnerungsforum in Rizgary entstehen.

Figürliche Frauenstatue

Vor dem Eingang des Erinnerungsforums soll eine lebensgroße figürliche Frauenstatue die spezifische Erfahrung von Frauen unter den Anfal-Überlebenden repräsentieren und das Forum als vor allem von Frauen initiierten und gestalteten Ort kennzeichnen.

In Diskussionen mit lokalen Künstler*innen entwickelten die Anfal überlebenden Frauen die Idee einer lebensgroßen Statue einer Frau mit einem toten Kind auf dem Arm und einem lebenden Kind an ihrer Seite. Die Figur soll sowohl den Schmerz und die Trauer, aber auch ihre Stärke und ihren Überlebensstolz ausdrücken. In mehreren Ausschreibungsrunden entstanden an die 15 Modelle. Bislang hat noch kein Entwurf die Frauen überzeugt – der gemeinsame Gestaltungsprozess geht weiter. Der Prozess der plastischen Ausgestaltung ihrer Erinnerung gibt den Frauen ein Forum zur Artikulation ihrer widersprüchlichen Gefühle zwischen Trauer und Hoffnung, Verzweiflung und Stolz.

Entwürfe Statue

Förderer und Partner*innen

Das Projekt aus Mitteln des Auswärtigen Amtes finanziert.