Voreheliche Beratung
Frühe und unbedachte Ehen führen in der Kurdischen Region Irak zu familiären Konflikten und Gewalt und damit einhergehend zu hohen Scheidungsraten. In dem von KHANZAD in Kooperation mit dem Gesundheitsdirektorat und Familienberatungszentrum Sulaimania durchgeführten Projekt zu vorehelicher Beratung soll dem auf unterschiedlichen Ebenen entgegengewirkt werden: durch Aufklärungsangebote für junge Menschen, durch die Stärkung bestehender Beratungs- und Aufklärungsstrukturen, sowie durch den Austausch von relevanten Akteur*innen für die institutionelle und rechtliche Verankerung von vorehelicher Beratung.
Inhaltsverzeichnis
Hintergrund
Konflikte und Gewalt in der Ehe und Familie sowie eine steigende Scheidungsrate, die vor allem für Frauen und Kinder stigmatisierende Folgen hat, stellen ein akutes Problem in der Kurdischen Region Irak dar. Das Direktorat zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen (DCVAW) verzeichnet für das Jahr 2021 über 5.600 Fälle von häuslicher Gewalt für die Stadt Sulaimania. Die Scheidungsrate nahm von 2020 auf 2021 um 58% zu.
Früh- und Zwangsehen sowie mangelnde Aufklärung junger Menschen vor der Ehe werden von lokalen Frauenrechtsgruppen und staatlichen Beratungsstellen u.a. als Ursachen für Gewalt in der Familie und Ehe genannt. Kinderehen, Zwangsehen oder Ehen, die von Familien nach traditionellen Riten geschlossen werden, sind zwar gesetzlich verboten und auch bei Eheschließungen von Partner*innen unter 18 Jahren oder bei Vielehen bedarf es einer gerichtlichen Zustimmung. Jedoch wird bei zahlreichen Ehen die Gesetzgebung durch traditionelle Riten religiöser Autoritäten umgangen.
Auch unter den irakischen Geflüchteten aus Provinzen des Zentralirak ist familiäre und eheliche Gewalt weit verbreitet. In den hauptsächlich arabisch-sunnitisch geprägten Herkunftsorten der Binnengeflüchteten gibt es bisher keine gesetzliche Ächtung von Kinder- und Zwangsehen sowie von Gewalt an Frauen. Zudem übersetzen sich in den Geflüchteten-Camps der Region ökonomische Not, soziale Konflikte und psychischer Stress in eine hohe Prävalenz von Kinder- und Zwangsehen und sexualisierter Gewalt. Diese Entwicklung spiegelt sich auch in den Gastgemeinden in der Kurdischen Region.
Grundsätzlich ist die Eheschließung in der Kurdischen Region eine Familienangelegenheit: Die Familien nehmen Einfluss auf die Partner*innenwahl und insbesondere in ländlichen Gebieten und bildungsfernen Schichten werden junge Menschen in Ehen mit Partner*innen aus der erweiterten Familie oder mit ihnen unbekannten Menschen gedrängt.
Angesichts anhaltender Gewaltkonflikte im Irak, der ökonomischen Krise und des damit verbundenen Mangels an Bildungs- und Berufsperspektiven sind zudem vor allem unter jungen Menschen Hoffnungs- und Perspektivlosigkeit verbreitet. Dies und die Tabuisierung vorehelicher Kontakte zum anderen Geschlecht außerhalb der Familie, familiäre Konflikte sowie das generelle Schweigen über Sexualität treiben viele junge Menschen in frühe und unbedachte Ehen.
Eine weitere Entwicklung, die insbesondere junge Frauen in ungewollte sexuelle Beziehungen und Ehen zwingt, ist die Nutzung von Sozialen Medien zur Drohung und Erpressung. Die Plattformen werden genutzt, um Fotos und/oder gefälschte Posts der Frauen zu veröffentlichen bzw. sie mit einer Veröffentlichung unter Druck zu setzen.
Die Unaufgeklärtheit von Partner*innen über ihre Rechte und Themen wie Sexualität oder geschlechtsspezifische Rollen, die hohe Zahl an Fällen von Gewalt und Konflikten in der Ehe und Familie sowie die steigende Scheidungsrate ziehen sich durch alle sozialen Schichten in der Gesellschaft. Die bestehenden Einrichtungen zur vorehelichen und Familien-Beratung am Gesundheitsdepartment von Sulaimania und dem DCVAW-Familienberatungszentrum sind angesichts des hohen Bedarfs an Aufklärung, Beratung und Sensibilisierung für Ehe- und Familien-relevante Themen überlastet, unzureichend professionell ausgebildet und mangelhaft miteinander vernetzt. Vor diesem Hintergrund fordern zivilgesellschaftliche Frauengruppen, die Familiengerichte, die DCVAW-Beratungsstellen und das Gesundheitsdepartement von Sulaimania institutionalisierte, qualifizierte Strukturen der vorehelichen Beratung für junge Menschen.
Das Projekt
- In Seminaren werden Schüler*innen und Studierende staatlicher Schulen und Hochschulen über ihre Rechte, die Herausforderungen der Ehe, den partnerschaftlichen Umgang sowie über bestehende Angebote der vorehelichen und Ehe- und Familienberatung aufgeklärt. Sozialarbeiter*innen und Lehrer*innen werden für die Früherkennung von Zwangs- und Frühehen sensibilisiert, in Basiskompetenzen für die voreheliche Beratung geschult und mit Überweisungswegen zur (vorehelichen) Beratung vertraut gemacht. (Mikro-Ebene)
- Die bestehenden Strukturen vorehelicher Beratung des DOH und der Familienberatung des DCVAW in Sulaimania werden gestärkt, indem den Berater*innen Workshops zur Weiterbildung, fachlichen Beratung und Supervision angeboten werden. Die Mitglieder der sogenannten Friedenskomitees im Familienberatungszentrum Sulaimania werden für eine qualifizierte voreheliche Beratung von jungen Menschen und die Beratung in ehelichen Gewaltkonflikten weitergebildet. Zudem erhalten die Beratungsstellen logistische Unterstützung, um ihre Reichte und Kapazitäten auszubauen. (Meso-Ebene)
- Die Vernetzung und der Austausch relevanter Akteur*innen – Familiengerichte, DOH und DCVAW-Familienberatungsstellen – werden zunächst auf Provinz- und dann auf regionaler Ebene gefördert. Auf Grundlage der gemeinsamen Entwicklung von Empfehlungen sollen politische Entscheidungsträger*innen miteibezogen werden und erste Schritte zu einer gesetzlichen Verankerung einer verpflichtenden vorehelichen Beratung für junge Menschen gemacht werden. (Makro-Ebene)