Überleben nach Gewalt und Verlust – Unterstützung von Anfal überlebenden Frauen

HAUKARI e.V. unterstützt die Selbstorganisationen von Überlebenden politischer und sozialer Gewalt – insbesondere von überlebenden Frauen der Anfal-Operationen 1988 – in ihrem Kampf um Gerechtigkeit und Anerkennung.

Inhaltsverzeichnis

Hintergrund

Die Anfal-Operationen 1988

1988 führte das irakische Regime unter dem Codewort „Anfal“ eine großangelegte Militäroperation gegen kurdische Gebiete im Norden des Irak durch. Mehr als hunderttausend Männer und Frauen wurden verschleppt, ermordet und in Massengräbern verscharrt. Das individuelle Schicksal der meisten ist bis heute ungewiss. 

Tausende kurdische Dörfer wurden dem Erdboden gleichgemacht. Tausende Frauen, Männer und Kinder wurden monatelang in Lagern und Gefängnissen inhaftiert; viele starben hier an Hunger und Erschöpfung. Nach ihrer Freilassung wurden die Überlebenden in Zwangsumsiedlungslager verbracht. Die heute 40 000 Einwohner*innen zählende Stadt Rizgary ist aus einem solchen Umsiedlungslager entstanden. 

Überleben nach Anfal

Nach Anfal verbrachten die Überlebenden weitere 15 Jahre in Ungewissheit über das Schicksal ihrer Angehörigen, provisorischen Lebenssituationen und extremer Not. Ihre ökonomischen Grundlagen und sozialen Netzwerke waren zerstört. Die rechtliche und soziale Situation von alleinstehenden Frauen mit Kindern unter den Überlebenden war unklar; im patriarchalen und traditionellen Umfeld der kurdischen ländlichen Gesellschaft waren sie Kontrolle und Stigmatisierungen ausgesetzt und in ihrer Mobilität und der Entwicklung neuer Lebensperspektiven eingeschränkt.    

Trotz aller Widrigkeiten entwickelten Anfal überlebende Frauen enorme Energien, verrichteten alle Arten von harter Arbeit, um zu überleben und ihre oft zahlreichen Kinder ohne männliche und gesellschaftliche Unterstützung großzuziehen. Ihr wichtigster Motor waren dabei ihre Kinder; die wichtigste Ressource ihre starken solidarischen Strukturen untereinander und ihr kollektiver Umgang mit der Situation als Gruppe Anfal überlebende Frauen.  

Erst nach dem Sturz des Baath-Regimes 2003 erhielten sie Gewissheit über die Ermordung ihrer Angehörigen. Ihre ökonomische und soziale Situation stabilisierte sich; Anfal-Überlebende haben ihre Familien, ihre sozialen und ökonomischen Netzwerke wiederaufgebaut. Heute ist ihr anhaltendes Leid über die erfahrene extreme Gewalt und die erlittenen Verluste gepaart mit dem Stolz darüber, überlebt und dem Vernichtungswillen der Aggressoren widerstanden zu haben. Sie bringen ihre Forderungen nach einer schnellen Öffnung der Massengräber, nach Gerechtigkeit, Entschädigung sowie nach politischer und gesellschaftlicher Anerkennung ihrer Erfahrungen in die öffentliche Debatte ein. 

Das Projekt Erinnerungsforum für Anfal überlebende Frauen

Seit 2009 unterstützt HAUKARI e.V. eine Gruppe Anfal überlebender Frauen in Rizgary, die sich für eine selbst gestaltete und selbst verwaltete Anfal-Gedenkstätte engagieren. 

Das „Erinnerungsforum für Anfal überlebende Frauen“ soll ihre spezifische Erfahrung als Frauen während und nach Anfal, ihr Leid ebenso wie ihre Stärken, repräsentieren und ihnen Ort der Trauer, des Gedenkens an die Opfer und des sozialen Austausches sein. Das Erinnerungsforum soll Dialogräume eröffnen für die Auseinandersetzung mit anderen gesellschaftlichen Gruppen in Kurdistan und im gesamten Irak. 

Im Projektrahmen entwickelten Anfal überlebende Frauen zusammen mit lokalen und internationalen Berater*innen, Künstler*innen und Architekt*innen Gestaltungsentwürfe für das Erinnerungsforum, organisierten über Veranstaltungen, Ausstellungen und Lobbygespräche gesellschaftliche und politische Unterstützung in der Kurdischen Region des Irak, besuchten Gedenkstätten für die Opfer des Holocaust in Deutschland und tauschten sich mit Überlebenden von genozidaler Gewalt in Ruanda und Bosnien aus. Sie erstritten von der Stadtverwaltung Rizgary einen Bauplatz im Herzen der Stadt und von der Kurdischen Regionalregierung eine Zusage zur baulichen Umsetzung des Erinnerungsforums. Das Erinnerungsforum soll nach Entwurf des deutsch-mexikanischen Architektenbüros Zeller & Moye erbaut werden.

Mit der Initiative für das Erinnerungsforum machen Anfal überlebende Frauen einen Schritt heraus aus dem langjährigen Wartezustand und zur gemeinsamen Bearbeitung ihrer Gewalt- und Verlusterfahrungen und stärken ihre solidarischen kollektiven Strukturen.  Sie setzen dem in Kurdistan und im Irak vorherrschenden Diskurs über die Anfal-Frauen als passive Opfer und Symbole des Leids ihre eigenen Erinnerungen, Erzählungen und Stärken entgegen und engagieren sich aktiv in der Debatte um die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und der öffentlichen Gestaltung von Erinnerung.

Aktueller Stand

Durch die erneute Konfliktsituation und die anhaltende Finanzkrise in der Kurdischen Region Irak seit 2014 verzögerte sich der Baubeginn. Anfal überlebende Frauen aus Rizgari engagieren sich weiter für das Erinnerungsforum. HAUKARI e.V. begleitet sie in diesem Prozess, schafft Räume für Diskussion und Austausch sowie dezentrale Gedenkaktionen. 2022 wurde ein zuvor leerstehendes Gebäude in unmittelbarer Nähe des Bauplatzes renoviert. Es wird nun als sozialer Raum für Anfal-Überlebende und Werkstatt für die Entwicklung von Ausstellungen und Archiven für das spätere Erinnerungsforum genutzt. So sollen Teile des Erinnerungsforums „antizipiert“ und der Druck auf die Kurdische Regionalregierung zur Umsetzung des Forums erhöht werden.  

Für nähere Informationen zur Entstehungsgeschichte und Gestaltung des Erinnerungsforums schauen Sie hier. Mehr Details zum Anfal-Dokumentationszentrum Maryam gibt es auf unserer Projektseite zum Erinnerungsforum Anfal.

Förderer und Partner*innen

Das Erinnerungsforum soll von der Kurdischen Regionalregierung in enger Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Märtyrer und Anfal erbaut werden. Für die Begleitung des Prozesses erhielt HAUKARI e.V. von 2009 bis 2016 Mittel des Auswärtigen Amtes und engagiert sich zurzeit für weitere Förderung.  Aktuell wird die Begleitung des Projektes aus Spendenmitteln finanziert.