Stärkung von Jugendkulturinitiativen in der Germian-Region

Seit 2017 sind in der Germian-Region im Rahmen von Kaukari Projekten zwei Jugendkulturzentren in Kifri und Rizgary entstanden. In diesen Zentralen wird ein vielseitiges Kunst, Kultur, Bildungs- und Sportangebot für Jugendliche geboten

Inhaltsverzeichnis

Hintergrund

Angesichts fortdauernder politischer, militärischer, humanitärer und ökonomischer Krise in der Kurdischen Region im Irak herrschen unter jungen Menschen in der von Gewalt und Konflikt geprägten und infrastrukturell vernachlässigten Germian-Region Perspektivlosigkeit und Politikverdrossenheit. Viele ziehen sich ins Private oder in religiöse Diskurse zurück, sind anfällig für radikale Ideologien oder denken an Migration. Junge Frauen sind zudem durch ein traditionelles und patriarchales Umfeld in ihrer Mobilität und ihren beruflichen Perspektiven begrenzt. 

Projekt

Vor diesem Hintergrund sind 2017 in Kifri und 2019 in Rizgary zwei Jugendkulturzentren entstanden. In ihnen sollen basisdemokratische, parteiunabhängige und geschlechtergemischte Selbstorganisationsstrukturen Jugendlicher gestärkt und Räume für Weiterbildung und kreative und künstlerische Verwirklichung geschaffen werden. Die gemeinsame Entwicklung von gesellschaftlichen Visionen jenseits hergebrachter parteipolitischer Pfade sowie die Beteiligung an der Gestaltung ihrer Städte kann so die gesellschaftlichen Zukunft ihrer Region stärken.

Beide Projektpartner verstehen sich als parteiunabhängige, geschlechtergerechte, multiethnische von Jugendlichen selbst getragene und für Jugendliche offene Initiative. Das Konzept der „Jugend“ (Kurdisch. gencan) bezieht sich dabei im lokalen Verständnis auf die Altersgruppe zwischen 18 und 38. Beide Initiativen legen – als Gegengewicht zur politischen Elite und parteipolitischer Dominanz – einen Schwerpunkt auf kulturelle und künstlerische Aktivitäten und sind auf der Suche nach sozialen und politischen Mitgestaltungsmöglichkeit jenseits hergebrachten parteipolitischen Engagements. Beide Initiativen suchen nach basisdemokratischen, offenen Organisierungsmöglichkeiten und stehen Institutionalisierungstendenzen (NGOisierung) kritisch gegenüber. Gemeinsame Ziele sind: parteiunabhängige Kunst- und Kulturräume für junge Menschen; Fortbildung und Aufklärung zur Emanzipation von Fundamentalismus; Ermutigung von jungen Menschen zum Verbleib in der Region und Mitgestaltung des sozialen und kulturellen Lebens; Geschlechtergerechtigkeit und Prävention von (geschlechtsspezifischer) Gewalt; multiethnischer Dialog; gemeinsame Bearbeitung der gewaltvollen Vergangenheit. 

©Markus Mühlhaus, Attenzione photographers, attenzione-photo.com 

Jugendkulturzentrum Kifri

Im Projektrahmen wurde ein vom örtlichen Kulturdepartement bereit gestelltes großes Gebäude mit Garten und Innenhof renoviert und gestaltet. Hier kamen Film-, Theater- und Kunstgruppen zusammen, organisierten Kino, Theaterworkshops, Leseabende und Kunstaustellungen sowie ein breites Bildungsangebot: Nachhilfe für Schüler*innen und Studierende, Englisch- und Computerkurse sowie Workshops und Seminare zu Frauenrechten und Geschlechterrollen und Aktionstage zum Internationalen Frauentag. Künstler*innen des Zentrums und Studierende der Kunsthochschule begrünten und gestalteten in Zusammenarbeit mit der Stadtverwaltung Parkanlagen und Freiflächen, richteten ein Jugendgästehaus ein und verwirklichten Kunstprojekte in der Stadtlandschaft.

Konflikte

Aber es gab auch Rückschläge. Im Sommer 2019 kam es zu internen Konflikten unter Aktiven des Jugendkulturzentrums Kifri sowie zum Bruch zwischen einigen Aktiven und HAUKARI e.V.. Die Arbeit mit jungen Menschen und Künstler*innen in Kifri konnte erst Ende 2019 in alternativen Räumen fortgesetzt werden. HAUKARI e.V. hat sich in Kurdistan-Irak und Deutschland intensiv mit den entstandenen Konflikten auseinandergesetzt. Sie sind sicherlich vor dem Hintergrund der Gewalt und Konflikt belasteten und gespaltenen Situation in Kifri und damit verbundenen Konkurrenzen, um Zugänge zu Ressourcen, zu sehen. Auch Versuche der Einflussnahme politischer Parteien, denen eine parteiunabhängige Jugendarbeit missfällt, haben hier eine Rolle gespielt. Gleichzeitig haben uns die aufgebrochenen Konflikte gezeigt, dass es jenseits der Begeisterung über und Förderung von zahlreichen Einzelaktivitäten junger Menschen für die langfristige Arbeit zentral ist, sie zur Entwicklung von selbst organisierten basisdemokratischen und partizipativen, von HAUKARI e.V. unabhängigen Träger- und Kooperationsstrukturen zu ermutigen, die die Partizipation unterschiedlicher Akteur*innen ermöglichen und in denen Entscheidungsprozesse und Verantwortlichkeiten transparent sind.

Jugendkulturzentrum Rizgary

2019 öffnete ein weiteres Jugendkulturzentrum in der 30 km von Kifri entfernten Stadt Rizgary – in der auch das von HAUKARI e.V. unterstützte Erinnerungsforum für Anfal überlebende Frauen entsteht – seine Türen. Hier wurden von der Stadtverwaltung bereitgestellte Räume in der Stadtbibliothek für die Nutzung von jungen Menschen und Künstler*innen renoviert. 

In Rizgary wurden alle geplanten Aktivitäten von Beginn an mit Stadtverwaltung, bestehenden Jugendeinrichtungen und Bildungsinstitutionen wie dem Berufsbildungszentrum Kalar und der Universität Germian gemeinsam diskutiert und entwickelt. Das Echo war riesig: In kürzester Zeit wandten sich zahlreiche junge Menschen mit Ideen und Initiativen an das Zentrum und es entstand ein breit gefächertes Bildungs-, Kultur- und Freizeitangebot mit einer starken Komponente von und mit Frauen und Mädchen: von Fortbildungsseminaren für Journalistinnen und Frauenaktivistinnen bis hin zur „aufsuchenden“ Bildungsarbeit und Gesprächskreisen für kleine Gruppen von in ihrer Mobilität eingeschränkten Frauen und Mädchen in häuslichen Settings am Stadtrand oder in umliegenden Dörfern. Mit Frauenschwimmkursen und einer Fahrradrallye stellten Frauen und Mädchen Tabus öffentlich in Frage. 

Besondere Aktionen der letzten Jahre

  • Im Oktober 2018 organisierten HAUKARI e.V. und das Kunst- und Kulturzentrum ein „Kunst- und Friedensfestival“ in Kifri. Das Festival brachte 60 Künstler*innen aus 8 Städten der Kurdischen Region und 4 Städten des Irak zusammen, die ihre Werke ausstellten, Filme zeigten, Theater spielten und Musik machten. Sechshundert vor allem junge Menschen, aber auch Honoratioren der Stadt und der Region, nahmen teil. Über die Nutzung von historischen Gebäuden und öffentlichen Plätzen für Ausstellungen und Straßentheater verwandelte sich die ganze Stadt in eine Bühne, trugen Künstler*innen ihre Werke und Ideen zu den Themen Menschenrechte, Geschlechtergerechtigkeit und Demokratie auf die Straße und bezogen die Stadtbevölkerung aktiv ein. Immer wieder wurde dabei angeknüpft an die lange Geschichte friedlichen Zusammenlebens verschiedener ethnischer Gruppen in Kifri. Drei Tage lang wurde hier vielsprachig und bunt „das Leben gefeiert“ – und inmitten von Konflikten und zunehmenden Fundamentalismen und Nationalismen ein machtvolles Zeichen für Dialog und Frieden gesetzt!
  • Zum kurdischen Neujahrsfest am 21. März 2019 organisierte das Jugendkulturzentrum Kifri zusammen mit Bürgermeister und Stadtverwaltung ein Festival am Stausee der Stadt, das die Begrüßung des Neuen Jahres mit dem Gedenken an den kurdischen Aufstand gegen das irakische Baath-Regime 1991 verband. Hunderte von kurdischen, turkmenischen und arabischen Familien, darunter viele vor IS und schiitischen Milizen aus dem Zentralirak Geflüchtete, tanzten gemeinsam um das Neujahrsfeuer.
  • Mit zusätzlichen Fördermitteln von medico international beteiligten sich Studierende der Kunsthochschule Kifri und Aktive des Jugendkulturzentrums 2019 an der Renovierung von 11 Schulen in Kifri, organisierten Nachhilfe, Aufklärungsworkshops und Freizeitangebote in Schulen sowie ein Kinderfest zum Internationalen Kindertag mit mehr als 300 Kindern und konnten so auch viele Schüler*innen unter 18 Jahren für die Teilnahme am Angebot des Jugendkulturzentrums gewinnen.
  • Ein besonderer Moment war auch der Mädchenfahrrad-Wettbewerb Rizgary im Januar 2020. Rizgari war als ehemaliges Zwangsumsiedlungslager für Anfal Überlebende, durch die Stigmatisierungen der Überlebenden – häufig alleinerziehenden Frauen – lange von einer konservativen Geschlechterordnung geprägt. Der Fahrradwettbewerb stellte eine öffenliche Herausforderung von starren Geschlechterrollen dar, womit diese Generation von jungen Mädchen ihr Stadtbild neu prägen.
  • Die Mitarbeiter*innen der Jugendkulturzentren und freiwillige Jugendliche organisierten angesichts der Covid-19 Pandemie zahlreiche Nothilfeaktionen. So nähten Frauen aus den Handarbeitsgruppen medizinische Masken und Schutzkleidung, freiwillige Jugendliche organisierten Verteilungsaktionen für Hygieneartikel im Stadtzentrum und mahnten durch Aufklärungsaktionen zur Einhaltung der Schutzmaßnahmen. Zudem arbeiteten die Jugendkulturzentren eng mit der örtlichen Verwaltung zusammen und unterstützten diese. 

Förderer und Partner*innen

Die Anfänge des Jugendprojektes Kifri und das erste Kunst- und Friedensfestival 2019 wurden von medico international gefördert. Für den Ausbau der Jugendkulturzentren Kifri und Rizgari und die vielfältigen kulturellen und Bildungsaktivitäten erhält HAUKARI e.V. seit 2018 Fördermittel des Bundesministeriums für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ).